Die Presse: Im Zweifel für die Eltern

Die Presse: Im Zweifel für die Eltern

Der Oberste Gerichtshof gibt Eltern das Sorgerecht für ihren Sohn zurück, das das Jugendamt für sich beansprucht hatte. Das Baby hatte Verletzungen erlitten, doch es blieb unklar, ob durch Misshandlung oder Unglück.

31.07.2016 | Philipp Aichinger (Die Presse)

Der Oberste Gerichtshof gibt Eltern das Sorgerecht für ihren Sohn zurück, das das Jugendamt für sich beansprucht hatte. Das Baby hatte Verletzungen erlitten, doch es blieb unklar, ob durch Misshandlung oder Unglück.

Wien. Inwieweit kann man Eltern noch vertrauen, deren Baby mehrere Verletzungen erlitt? Diese Frage musste der Oberste Gerichtshof in einem Wiener Fall klären. Denn es blieb bis zuletzt unklar, ob die Verletzungen eine Folge von Misshandlungen waren oder schicksalshaft erlitten wurden.

Einige Wochen nach der Geburt hatte der Kinderarzt Alarm geschlagen. Denn der Kopf des Babys war unverhältnismäßig groß. Zudem trat beim Kind das Sonnenuntergangsphänomen auf. Die Iris rutscht dabei unter den unteren Lidrand, was als Hinweis für erhöhten Hirndruck gilt. Der Arzt empfahl, bei dem Kind ein Schädelsonographie durchführen zu lassen und gab den Eltern eine Überweisung für das Wilhelminenspital mit.

Sechs Tage später suchten die Eltern das Spital auf. Die Untersuchung zeigte Flüssigkeitsansammlungen über beiden Großhirnhemisphären und temporale Hämatome im Bereich des Jochbeins. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei der Geburt zu einer ersten kleineren Blutung gekommen ist, die zu Nachblutungen hätte führen können. Aber auch ein Schütteltrauma konnte bei dem Baby nicht ausgeschlossen werden.

Die Geburt selbst sei besonders schwierig gewesen und habe 23 Stunden gedauert, erklärt Anwalt Florian Kucera, der im Verfahren die Mutter vertreten hat. Schwierig sei das Procedere auch deswegen gewesen, weil die Frau (eine somalische Staatsbürgerin) beschnitten ist.

Die beim Baby entstandenen Hämatome im Jochbeinbereich sind jedenfalls Folgen stumpfer Gewalt. Sie können durch kräftige Schläge mit einem Finger, einen Sturz auf bestimmte Gegenstände oder durch heftiges Zwicken entstanden sein. Möglich ist, dass einer der Elternteile für die Hämatome verantwortlich ist. Möglich ist aber auch, dass diese auf zwei Stürze des Kindes zurückgehen, wobei dies in Anbetracht der Verletzungen auf zwei nahezu gleichförmige Stürze zurückgehen müsste.

Im Strafprozess wurden die Eltern freigesprochen. Auch ihre Persönlichkeit wurde als nicht besonders auffällig eingestuft. Die Jugendhilfe hatte aber bereits nach Vorliegen der Krankenhausbefunde vorläufig der Mutter und ihrem damaligen Ehemann (der nicht der leibliche Kindesvater ist) das Recht auf Pflege und Erziehung des Kindes entzogen.

Reicht der Verdacht auf Misshandlung?

Inzwischen ist die Mutter mit dem Vater des Kindes verheiratet. Und sie forderten das Sorgerecht für den Nachwuchs an. Die Jugendhilfe hingegen verlangte, dass sie dauerhaft und in vollem Umfang die Obsorge über das Kind erhält. Das Bezirksgericht Wien-Hernals fand, dass die Eltern aber sehr wohl geeignet seien, für das Kind zu sorgen. Es gebe für die Verletzungen des Kindes keine eindeutige Verletzungsursache. Also könne man auch nicht mit ausreichender Sicherheit sagen, dass die Verletzungen auf die Eltern zurückgehen würden. Zwar haben umgekehrt auch die Eltern die Verdachtsmomente nicht ausräumen können. Aber es reiche, die Eltern zu bestimmten Auflagen zu verpflichten, um das Wohlergehen des Kindes zu überprüfen.

Das Wiener Landesgericht für Zivilrechtssachen sah das anders und wollte die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung dauerhaft auf das Jugendamt übertragen. Es bedürfe zumindest bei besonders schwerer Misshandlung keines Beweises, dass ein Elternteil daran mitgewirkt habe, erklärte das Gericht. Es reiche schon ein qualifizierter, auch durch umfassende Beweisaufnahmen nicht auszuräumender Verdacht, um das Sorgerecht zu entziehen. Und die Eltern hätten keine nachvollziehbare Erklärung für die Blutergüsse des Kindes im Jochbeinbereich geben können.

Der Oberste Gerichtshof (OGH) betonte, dass den Eltern die Obsorge entzogen werden müsste, wenn sie an den Verletzungen des Kindes schuld wären. „Hier steht aber gar nicht fest, dass diese schwerwiegenden Verletzungen des Kindes Folge einer Misshandlung sind“, sagten die Richter. Denn „zumindest ebenso wahrscheinlich ist nach den Feststellungen ein schicksalshafter Verlauf nach einer schweren Geburt“. Für Letzteres spreche der zeitliche Verlauf der Verletzungen.

Die Höchstrichter (1 Ob 45/16y) entschieden, dass die Eltern das Sorgerecht für ihr Kind, das seit 18 Monaten bei wechselnden Pflegeeltern untergebracht war, zurückbekommen. Denn selbst wenn die Eltern einst mit der Betreuung eines Säuglings überfordert gewesen sein sollten, müsse dies bei einem Nachwuchs im angehenden Kindergartenalter nicht gelten. Um zu überprüfen, dass es dem Kind gut geht, reiche es, wenn die Eltern bestimmten Auflagen zur Kontrolle unterworfen sind. Mit diesen Auflagen (Frühförderung, Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht gegenüber dem Gericht) haben sich die Eltern auch einverstanden gezeigt.

Strafe in Kärntner Fall bestätigt


Wenn hingegen einem Kind tatsächlich etwas angetan wurde, gibt es kein Pardon, wie ein anderer, diesfalls strafrechtlicher Fall zeigt. Ein Kärntner, der sein Baby zu Tode geschüttelt hatte und vom Landesgericht Klagenfurt zu acht Jahren Haft verurteilt worden war, scheiterte mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde beim OGH (12 Os 6/16t). Der Schuldspruch ist somit rechtskräftig, über die Strafhöhe urteilt noch das Oberlandesgericht Graz.